Wiese Weite Wohnen
Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Freund und Blogleser, der auch mal in der Nachbarschaft gewohnt hat:
Wieso titelt das Bauprojekt eigentlich mit "Wiese, Weite, Wohnen"? Ne Wiese
kann ich auf den Bildern, die Du gepostet hast, nicht erkennen und um Weite
zu erahnen braucht´s auch `ne Menge Phantasie (oder bewusstseinserweiternde
Substanzen). Vielleicht zielt die Bezeichnung eher auf die frühere Nutzung
des Geländes? Egal – wie ich lese hast Du ja schon ein
gutnachbarschaftliches Verhältnis zu den neuen Bewohnern aufgenommen und
wurdest auf ein Bier eingeladen. Na dann: Prost!
Ich bin daraufhin mal aufs Dach geklettert, um zu überprüfen, ob "Wiese Weite Wohnen" tatsächlich so ein hohles Versprechen war. Dabei ist das Foto entstanden. Urteilt selbst!
"Hier wohnt ein Kind"
Heute sehe ich, was die Ursache der gestrigen Aufregung war: In der Fassade eines der "Wiese-Weite-Wohnen"-Häuser sind kleine Einschusslöcher zu sehen. Scheinbar wurde tatsächlich auf die Häuser geschossen. Vermutlich war es keine Waffe mit großer Durchschlagkraft - aber immerhin. Eine solche Attacke hätte eine neue Qualität. Der Schreck, der den neuen Nachbarn in die Glieder gefahren sein muss, ist nachvollziehbar.
Sie haben reagiert und mit Farbe an eines ihrer großen Fenster geschrieben: "Hier wohnt ein Kind." Ob das die Kiezrevolutionäre abhält oder eher zu einem Pädophilie-Missverständnis führt, bleibt abzuwarten. Einstweilen dreht der glatzköpfige Wachmann hinter dem Zaun der "Wiese-Weite-Wohnen"-Siedlung seine Runden mit seinem Hund und es dröhnen nachts alle 20 Minuten die Dieselmotoren eines Zwanzigsitzers der Berliner Polizei vorbei. Der Bauzaun wird wohl noch länger stehen bleiben und die neuen Nachbarn von dem quirligen Kiezleben trennen, das ihnen in der Projektbeschreibung ausgemalt wurde.
Schrecken in der Nacht
Nachts gegen dreiviertel Vier wache ich auf: Bam Bam Bam Bam Bam - es hört sich an wie eine Maschinengewehrsalve. Nicht ganz so laut und etwas schepperig - wie von einer Spielzeugwaffe. Aber ansonsten recht einschüchternd. Ich drehe mich um, denn am Wochenende ist es manchmal laut draußen. Kurze Zeit drauf erschallt eine zweite Salve. Dann höre ich eine Frauenstimme und stehe nun doch auf. Es könnte ja ein Mensch in Not sein - so wie vor einigen Wochen, als im Durchgang zur Proskauer Straße eine junge Frau überfallen wurde.
Gegenüber bei den neuen Nachbarn im "Wiese-Weite-Wohnen"-Komplex gehen die Lichter an. Eine Frau steht auf dem Balkon und ruft: "Kaspar". Ein Mann steht drinnen im voll verglasten Raum und geht telefonierend auf und ab. Unten im Erdgeschoss steht kauernd eine Gestalt. Der Wachmann mit dem Hund kommt und läuft die Straße auf und ab.
Ich kann die Ursache für die Aufregung nicht erkennen und will mich gerade wieder hinlegen. Da höre ich die Frau vom Balkon gegenüber mit vor Angst nahezu zitternder Stimme in die stürmische Nacht hinein rufen: "Wir kriegen Euch! Fiese Sache, das."
Gated Community
Es ist der erste richtig warme Tag heute. Die Leute sind wie verrückt nach dem Frühling. In der Stadt belegen sie alle verfügbaren Bänke. Die neuerding wieder strömenden Touris drängeln sich in die S-Bahnen (ein Zug macht ausgerechnet heute vormittag am Alex schlapp und blockiert den Verkehr auf der Stadtbahn) und Straßencafés in Ost- wie in Westberlin.
In Berlin - ehemals Hauptstadt der DDR - blüht hinter einer Mauer unterdessen ein neues kleines Glück auf: Mehr und mehr Bewohner/innen der "Wiese-Weite-Wohnen"-Siedlung beziehen ihre neuen Häuser. Auch heute stehen wieder Umzugswagen auf der Straße. Sie haben es schwer, bis an die Häuser vorzudringen. Denn das Grundstück ist durch einen Zaun abgeriegelt. Der Eingang ist für Umzugsleute schwer zu finden und der Zugang wird durch einen Wachmann kontrolliert. Nach den Angriffen der letzten Monate - mit Brandsätzen und Farbbeuteln - igeln sich die Besitzer ein. Es ist eine Ironie, dass die erste größere deutsche Gated Community im Biosphärenreservat in Potsdam nicht genügend solvente Interessenten/innen fand, während hier - mitten m wenig exclusiven Arbeiterbezirk Friedrichshain - vermutlich unfreiwillig eine solche abgeschlossene Siedlung entsteht. Nicht, weil deren meist der Mittelklasse zuzurechnenden Bewohner/innen sich das so gewünscht haben, sondern weil sie mittlerweile in einem Klima der Angst leben - der eigentlichen Triebkraft für das Entstehen von Gated Communities in Osteuropa, auf dem amerikanischen Kontinent oder in Südafrika.
Hier im Friedricshain ziehen vorwiegend junge Familien ein. Sie werden unterstützt von noch rüstigen Großeltern, die Bullis fahren können oder Ikea-Einkäufe über längere Distanzen schleppen - oder die einfach nur auf die Kinder aufpassen. Möglicherweise haben sie auch bei der Finanzierung der neuen Traumwohnung geholfen; jedenfalls stolzieren manche so aufrecht durch die noch nicht fertig gestellte Anlage, als seien sie hier die Hausherren.
Kurz vor dem unvermeidlichen ersten Berliner Sommerregen sehe ich zwei Mädchen, etwa 12 Jahre, auf ihren Rädern durch die Liebigstraße fahren. Sie haben offenbar gerade ihren neuen Kiez erkundet und wollen nun wieder heim. Auch sie suchen nach einem Eingang in die Siedlung. Bald werden sie sich vielleicht daran gewöhnt haben, dass sie hinter einer Mauer aufwachsen. Es wäre nicht die erste Berliner Generation. die diese Erfahrung normal findet.