Briefträgerin
Heute treffe ich seit längerem einmal wieder unsere Briefträgerin. Sie weiß alles über mich. Als ich vor einigen Jahren in eine andere Wohnung im gleichen Straßenblock zog, stand kurzeitig an beiden Wohnungen mein Name. Das bemerkte sie sofort: "Ziehen Sie um oder zieht ein Verwandter gleich um die Ecke in die Frankfurter Allee?", fragte mich die Frau nur wenige Tage später. Sofort hatte sie ein paar gute Tips auf Lager, wie der Umzug posttechnisch zu bewerkstelligen sei. Leider habe ich in dieser Hinsicht wohl versagt. Obwohl es Jahre her ist, sagt mir die Briefträgerin immer noch regelmäßig: "Da ist vor kurzem wieder Post für Sie in der Proskauer Straße gelandet. Naja, ich weiß ja, dass Sie da nicht mehr wohnen. Aber ich muß die Post an die Adresse zustellen, die vermerkt ist..."Heute hingegen begann sie das Gespräch mit den Worten: "Wieder nix für Sie dabei. Sie bekommen ja eh wenig Post..." Ich wollte schon irgendwas entgegnen - also konkret wollte ich sie bitten, die DIN A4-Umschkäge nicht immer so scharf zu knicken, bevor sie sie durch den Schlitz des Briefkastens steckt. Wir bekommen öfters Bewerbungsmappen oder Diplomarbeiten von Studenten zugeschickt. Da der denkmalgeschützte Schlitz unseres denkmalgeschützten Hauses etwas zu klein für moderne Postsendungen ist, sehen die Mappen nach der Zustellung leider oft so aus, als hätte sie ein ukrainischer Separatist aus den Trümmern von MH 17 geplündert.
Doch ich kam gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn die Briefzustellerin hatte nun ihrerseits das Bedürfnis, mir aus ihrem Leben zu erzählen: "Ich bekomme ja auch wenig Post. Mein Sohn ist immer noch in China. Da skypen wir. In China gibt es gar keine richtigen Briefzusteller. Die haben zwar Briefkästen, nutzen sie aber für sonstwas. Post wird selten ausgetragen. Das dauert ewig. Nein, wir chatten lieber" Ihre Familie ist zerrissen. Ihr Sohn ist mir einer Frau aus Panama zusammen. Sie haben vor kurzem in China geheiratet. Eine kirchliche Trauung soll nun folgen - in Panama. Im Januar. "36 Grad hat es da", sagt sie. Ich sage: "Oh, da muss man dann mit dem Alkoholtrinken wohl aufpassen". Sie wiegelt ab. Das würde schon gehen. Der Flug sei schlimmer. Sie spricht kein englisch. Deshalb fliegt sie über Amsterdam: "Die Holländer müssten deutsch verstehen", hofft sie.
Eigentlich bin ich selbst schuld daran, dass die Briefträgerin mich so gut auf dem Schirm hat. Vor einigen Jahre hatte mir ein Mitbewohner mal ein "Projekt" aufgehalst. Eine Dienstleistungs-Testagentur war von der Deutschen Post beauftragt worden, die Qualität der Zustellung zu überprüfen. Dazu benötigten sie Testpersonen, denen Sendungen zugestellt werden sollten. Mein Mitbewohner hatte sich gemeldet - obwohl er in den Semesterferien kaum da war. Also bekam ich nun jede Menge interessanter Post: Einschreiben, Briefe in Übergröße, Büchersendungen und so weiter. Bei mir trudelten plötzlich mehr Einschreiben ein als bei Fichte, der damals unter mir wohnte und als der Punk im Haus galt.
Die Sendungen waren meistens leer. Aber in den Büchersendungen waren oft Schreibblöcke enthalten, damit das Gewicht stimmte. Eine gute Angelegenheit für mich als Student. Bis heute brauche ich mir kaum mehr Schreibblöcke zu kaufen. Auch Briefmarken gab es als Belohnung für die Teilnahme am Test. Es ist schwer zu glauben, dass die Briefträgerin nicht merkte, was da lief. Ich freute mich jedes Mal insgeheim diebisch über ihren neugierig-fragenden Gesichtsausdruck, wenn ich ihr an drei hintereinanderfolgenden Tagen betont entspannt die Entgegennahme eines Einschreibens quittierte. Doch spätestens seit dieser Zeit stehe ich bei ihr unter verschärfter Beobachtung.
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