Skandal auf der Oberbaumbrücke
Der heutige Tag war wieder einmal eine Wanderung zwischen den Welten. Denn Mittwoch ist traditioneller Anna-Tag. Also hole ich meine vierjährige Nichte nach der Arbeit aus dem Steglitzer Kindergarten ab.Auf dem Weg zum nächstgelegenen Spielplatz kommen wir zwangsläufig an einer Eckkneipe vorbei, die auch Eis führt. Anna weiß das.
Obwohl das Kind zu jenen 25 Prozent gehört, die nach dem neuesten Gesundheitsbericht der Bundesregierung als übergewichtig gelten, geht am Eis natürlich kein Weg vorbei.
Bei uns im Friedrichshain gibt es mittlerweile nur noch wenige Eckkneipen. Und wenn, dann würde ich nur im Notfall einen Fuß über die Schwelle setzen - angesichts des sozialen Elends, das mir höchstwahrscheinlich entgegenschwappen würde. In dieser Steglitzer Kneipe war das anders. Einige offenbar wohlsituierte Zecher/innen saßen bereits am Nachmittag in dem dunklen Raum, rauchten genüsslich, hätten auch das schwierige Fachwort "inhabergeführte Einraumgaststätte" wahrscheinlich ohne Nuschler hingekriegt. Ich will nicht behaupten, dass es sich bei den Gästen nun um wahre Stützen der Gesellschaft gehandelt hätte - aber zumindest waren es keine Langweiler.
Ich war so beeindruckt, dass ich fast mein Eis vergessen hätte. Der Wirt ermahnte mich unter dem freundlichen Gelächter seiner Kundschaft: "Nimm dit Eis mit! Ick ess sowat nich."
Auch auf dem Spielplatz herrschte eine andere Atmosphäre: Die Namen und Klamotten der Kinder unterschieden sich von denen Friedrichshainer Kinder. Ich hörte russisch und sah offenbar gut integrierte Kinder anderer Hautfarbe. Die etwas älteren Mädchen, die hier durchaus auch noch verkehrten, unterhielten sich zum Beispiel über Haarfärbungen, die Mütter über Erziehungsfragen und Nintendos.
Ich muss gestehen, dass ich etwas fremdelte. Unterstützt wurden meine - nun ja - Beklemmungen durch das unangepasste Verhalten des Kindes, auf das ich hier aufzupassen hatte: Nach langem Warten hatte Anna endlich eine Schaukel ergattert. Nun schaukelte sie nach Herzenslust - und ließ irgendwann alles raus. Ich merkte das an der etwas dunkleren Verfärbung des Sandes unterhalb der Schaukel: Als wenn jemand mit der Gießkanne drüber gegossen hätte. Ich näherte mich möglichst unverfangen der Schaukel. Mit jedem Schritt versuchte ich etwas Sand auf die verräterischen Spuren zu schaufeln. Mittlerweile warteten andere Kinder darauf, dass sie schaukeln durften. Ich blickte Anna tief an: "Wir gehen jetzt wohl besser mal nach Hause, oder?" Das Kind hatte den großen Pierre Bourdieu wohl schon gelesen und wußte Bescheid über das bildungstheoretische Paradoxon des "Einverständnisses im Unverständnis". Ohne Widerworte folgte sie mit ihrer nassen Hose. Ein anderes Mädchen kletterte behende auf die nasse Schaukel.
Dann die Rückfahrt mit dem Fahrrad. Ich muss sagen, dass ich zwar nach wie vor die meisten Strecken in der Stadt mit dem Rad zurück lege aber Radfahrer zunehmend als asozial empfinde. Das war schon heute drüh auf dem Hinweg extrem: Die lahmsten Radler fahren bei rot mitten auf die Kreuzung, trauen sich dann doch nicht weiter und blockieren alles, selbst als es längst wieder grün ist. Nicht, dass ich das Überfahren einer roten Ampel höher ansiedeln würde als ein Verstoß gegen die zehn Gebote. Aber wenn Fußgänger grün haben - zum Beispiel vor dem Kino International - dann sollte ich ihnen als Radfahrer eine Chance geben.
Auf dem Rückweg in den Friedrichshain fuhr ab der Oberbaumbrücke kurzzeitig ein Mittvierziger mit Wampe vor mir, der mit einer unglaublichen Aggressivität alles aus dem Weg boxte, was ihm in die Quere kam. Einem verplanten Jugendlichen, der mit seinem Mobiltelefon rumspielte und auf dem Radweg mäanderte, verpasste er im Vorbeifahren kurzerhand einen Fausthieb, andere störende Zeitgenossen hatten Glück und wurden nur beschimpft. Für ihn selbst galten hingegen keine Regeln.
Auf der nach Süden führenden Fahrspur der Oberbaumbrücke hatte es unterdessen einen Skandal gegeben. Mehrere Polizeifahrzeuge, PKW und zahlreiche Radfahrer standen dort. Entweder es war jemand von der Brücke gesprungen oder es hatte einen Unfall oder eine spontane Demonstration gegeben.
Überhaupt ist die Oberbaumbrücke doch nicht nur ein schönes Bauwerk sondern auch ein prima Kampfplatz. Ich freue mich schon auf die nächste Schlacht gegen Kreuzberg!
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